Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Zusammenfassung zu “Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche”
Rosalinde, eine Waise tatarischer Herkunft, verheiratet, gesegnet mit einer Tochter und zwei Zimmern in einer Kommunalwohnung, wird mit der jungfräulichen Schwangerschaft ihrer Tochter Sulfia konfrontiert. Die sie ihrer Tochter natürlich auch glaubt, denn wer sollte die ungestalte und dumme Tochter schon freiwillig schwängern. Nachdem alle bewährten Abtreibungsversuche (Senfbad, Lorbeersud, etc.) nicht fruchten, erklärt die Mitbewohnerin der Kommunalwohnung sich bereit, eine Abtreibung mit der Stricknadel vorzunehmen. Die Abtreibung klappt und Sulfia überlebt sogar. Und ist trotzdem schwanger – es waren Zwillinge gewesen. Als das Kind geboren wird, ein Mädchen, wird Rosalinde von einer tiefen Liebe ergriffen, der ersten ihres Lebens. Und deswegen ist sie sich auch zweifelsfrei sicher, dass sie die bessere Mutter für die Kleine ist. Animat, ihre Enkeltochter gehört einzig und allein zu Rosalinde, die sich mit Feuereifer in die Erziehung und Versorgung stürzt. Lange fügt die „kuhäugige“ Tochter Sulfia sich ihrer dominanten Mutter. Doch eines Tages verschwindet sie eines Tages in einer Nacht und Nebel Aktion mit dem Kind. Aber Sulfia hat die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht, die sich schnell wieder um das Kind kümmert – und ganz nebenbei noch komplett das Leben ihrer Tochter beherrscht. Die dann – zum großen Erstaunen ihrer Mutter doch noch einen passablen Mann findet. Und danach noch einen. Aber Rosalinde geht immer wieder dazwischen. Denn nur sie hat das Recht und vor allem die Fähigkeiten ihre Enkeltochter Animat zu erziehen – und das tut sie auch. Sie verlangt von Animat zu gehorchen, denn sonst wäre das Kind verantwortlich dafür, dass seine Mutter immer wieder krank wird. Mit dieser Gehirnwäsche bringt Rosa die kleine Animat dazu, mit acht Jahren den Haushalt zu besorgen und sich vernünftig um ihre Schulsachen zu kümmern. Die Großmutter hingegen wird nie schwach, nie krank. Der Enkeltochter zuliebe verzichtet sie sogar auf ihre Liebhaber, nachdem ihr Ehemann sie verlassen hat. Zur Eskalation kommt es, als Sulfia zusammen mit ihrer mittlerweile vierköpfigen Familie auswandern will. Da bleibt Rosa nur noch ein Ausweg! Der dann gegen Ende der Geschichte die Großmutter, die Tochter und die Enkeltochter nach Deutschland in die Wohnung des wahrscheinlich pädophilen Dieter führt. Denn im Russland jenseits (vielleicht auch diesseits) des Urals gibt es für Rosas Familie zu Beginn der neunziger Jahre keine Perspektive mehr. Und auch in Deutschland nimmt die Großmutter das Ruder sofort in die Hand. Und wird zur hoch bezahlten Putzfrau. Und eines Tages sehr einsam. Aber da taucht auch schon John auf. Tatarische Küche kommt in diesem Roman übrigens nur ganz am Rande vor.
Wichtige Charaktere
- Großmutter Rosalinda
- Tochter Sulfia
- Enkeltochter Aminat
- verschiedene Männer
Zitate
„Dann hatten wir Aussicht auf unsere zwei Zimmer in der Kommunalwohnung. Die nächste Seele, die bei mir anklopfte, ließ ich leben. Es war Sulfia. Ich fragte mich nie, was aus den Kindern, die ich in den Himmel zurückgeschickt hatte, wohl geworden wäre. Gott verzieh es mir. Er gab mir Sulfia, und das war ein Glück. Er hätte mir ja auch einen kompletten Krüppel geben können.“
„Ich stellte fest, dass ich für Deutschland eine ziemlich junge Frau war. Es war, als hätte ich aufgehört zu altern. Zwar hatte ich mein wirkliches Alter nicht vergessen. In Russland wusste ich, dass ich zwar jung war, aber dass andere Frauen in meinem Alter das längst nicht mehr waren. Hier stellte ich fest: Die Frauen meines Alters waren wirklich jung, auch wenn sie schlechter aussahen.“
„In meinem alten Land hatte sich vieles verändert. Es trug einen neuen Namen. Auch meine Stadt hieß inzwischen anders. Alles war sehr dreckig, und jeder verkaufte irgendetwas. Buden und Kioske drängten sich nebeneinander, auf Pappkisten wurden Lebensmittel, Kleider, Bücher und leere Coca-Cola-Dosen verkauft. Die Menschen waren schlimm angezogen und hatten Elend im Blick. Alle Mädchen sahen wie Nutten aus, und offenbar waren die meisten auch welche. Alte Frauen zählten mit zitternden Händen Münzen ab. Öffentliche Toiletten konnten von einer anständigen Frau nicht betreten werden.“
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Persönliche Bewertung
Extraklasse - hinreißend schön, traurig-komisch. Frauengeschichte(n) aus einer anderen Realität und Zeit!
Eine hinreißend schöne, traurig, erschreckend, komisch-satirisch anrührende Geschichte voller Grausamkeiten und doch voll von Liebe und Überlebenswillen. Einfach unbegreiflich erscheinen Wesen und Entscheidungen der viel zu jungen Großmutter Rosalinde. Unbegreiflich ist sie in ihrer extremen Inbesitznahme, Grausamkeit und Dominanz. Und doch erscheint sie wie eine ganz normale (russische) Frau aus dieser Zeit. Ein Paradox, das wohl der Sprachkunst einer Alina Bronsky bedarf, um nicht zu Aufschrei und Verurteilung zu führen. Denn unterschwellig schwingt doch immer mit, dass Rosa eigentlich recht pragmatisch handelt. Die meisten ihrer Entscheidungen wirken ausgesprochen vernünftig. Die Zeiten waren schwer und sind nicht besser geworden. Nur ein eiserner Überlebenswille gepaart mit einer gewissen Ignoranz hat Rosa dahin gebracht, wo sie steht. Und sie will, wie jede Mutter, dass es ihrer Tochter und Enkeltochter besser geht. Dafür sie gibt sie alles, und erwartet ganz natürlich, dass alle anderen, die schwächer sind als sie, ihr darin folgen. Das ist doch logisch, oder? Wer kann Rücksicht auf zarte Empfindungen und Sensibilität nehmen, wenn diese das Leben zu zerstören drohen? Rosa jedenfalls nicht. Ihr Lebenswille bricht einzig, wenn sie nicht für jemanden sorgen kann. Denn das vernachlässigte heimatlose, in russischen Kinderheimen aufgewachsene Waisenkind in sich selbst, das auch noch tatarischer Abstammung ist, also fast ein Zigeuner, und dessen einziger Bruder früh Selbstmord beging, hat sie wohl nie kennengelernt. Aber ihr ausgeprägter Überlebenswille trägt sie – bis nach Deutschland. Wahrscheinlich erzählt Alina Bronsky eigentlich eine recht typische russische Frauengeschichte – nur wirkt sie in ihrer starken Sogkraft, in der überdeutlichen Beschreibung einer derart anderen Realität, so erschreckend, dass wohl die meisten Leser sie eher für eine überzeichnete Satire halten wollen. Wahrscheinlich ist Rosa nämlich kein Ausnahmefall – aber an genau dieser Stelle wird das große Talent der Autorin gewahr: Sie destilliert das Allgemeine und einen bestimmten Zeitgeist in einen Prototypen von allgemeiner Gültigkeit – und das nennt man wohl gemeinhin Literatur. Und zudem hat Alina Bronsky mit diesem Roman all den russischen Frauen, die wie Rosa lebten, litten und liebten ein wunderbares Denkmal gesetzt.
Fazit
Extraklasse – hinreißend schön, traurig-komisch, gewürzt mit seelischer Grausamkeit und großer Liebe und einem extra starken Überlebenswillen erzählt Alina Bronsky russisch-sowjetisch-tatarische Frauengeschichten aus einer anderen Realität!
- ISBN10
- 3462042351
- ISBN13
- 9783462042351
- Dt. Erstveröffentlichung
- 2010
- Gebundene Ausgabe
- 320 Seiten