Der Zug in die jüngste Nacht

Autoren
Übersetzer
Eva Marie Wagner
Verlag
Piper Verlag
Anspruch
5 von 5
Humor
3 von 5
Lesespaß
4 von 5
Schreibstil
4 von 5
Spannung
3 von 5

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Zusammenfassung zu “Der Zug in die jüngste Nacht”

Amara macht sich von Italien aus – man schreibt das Jahr 1956 – auf den Weg, um die Spuren von Emanuele zu entdecken, dem geliebten Freund ihrer Kindheit, die sich im Ghetto von Łódź verloren haben. Im Gepäck hat sie ein Bündel Briefe, die Emanuele, nachdem die Kinder getrennt wurden, beständig an Amara schrieb. Schon beim ersten Grenzübertritt rettet Amara Hans, einen mitreisenden österreichisch-ungarischen Juden, vor den Quälereien der Passkontrolle, in dem sie behauptet, er wäre ihr Verwandter. Durch diese völlig spontane Aktion wird aus Hans ein Freund – er hilft Amara bei ihrer Suche, die tief hinter den „Eisernen Vorhang“ führt, gleichzeitig aber auch in das Wien der Kriegs- und der Nachkriegszeit. Zuerst geht es nach Polen, nach Auschwitz. Hier kommen weder Amara noch Hans gegen die Bürokraten an, die jetzt die Akten des Lagers verwalten. Gegenüber einer westlichen Journalistin, die mit einem österreichisch-ungarischen Juden unterwegs ist, herrscht ein immenses Misstrauen. Zurück in Wien versuchen Amara und Hans anhand des Nachnamens „Orenstein“ den Verschollenen aufzuspüren. Egal, auf wen die beiden bei ihrer Suche stoßen, jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Und einen gibt es, der behauptet sogar, er wäre Emanuele. Doch Amara kann das nicht glauben, denn dieser Mann erinnert in nichts an ihre Jugendliebe. Er erscheint sogar als das ganze Gegenteil, versoffen, aggressiv und heruntergekommen, wie er auftritt. Also geht die Suche weiter. Diesmal soll die Reise über Ungarn gehen. Hans will seinen Vater in Budapest besuchen, bevor weiterhin polnische Lagerakten befragt werden. Natürlich geraten die drei Freunde, mit dabei ist nun alter Bibliothekar, der Briefe von Frontsoldaten sammelte und veröffentlichte, in den Budapester Aufstand. Und hängen dort fest. Irgendwann gelangen sie nach Österreich zurück und finden Emanuele, womit sich für Amara ein weiterer Abgrund auftut.

Wichtige Charaktere

  • Amara Sorini, eine 26-jährige italienische Reporterin
  • Emanuele ihr Kindheitsfreund
  • Hans, der Mann mit dem Gazellenpullover

Zitate

„Aber ich wusste, das roch nicht nach unsauberen Menschen. Das war ein ekelerregender chemischer Geruch, er aus dem großen Raum kam, etwas, das an Bittermandeln erinnerte, allerdings in verfaultem Zustand. …Ich wollte nicht hineingehen … Und trotzdem bin ich da reingegangen, Amara, zusammen mit ihr, die mich am Handgelenk hineingezogen und dabei gesungen hat. Was für eine gedankenlose, leichtsinnige Mutter ich habe!“

„Kann Schönheit einem Frieden geben? Kann Schönheit einen in dem Moment, in dem man sich auf das Vergnügen des Anschauens beschränkt, in Einklang mit der Welt bringen?“

„Wie soll man Kontinuität, Beständigkeit und Erkenntnis mit der willenlosen Unmittelbarkeit der Sexualität in Einklang bringen? Warum war sie gerade in dem Augenblick so glücklich gewesen, so erfüllt von dem vollkommenen Glück der Liebe, als sie Kopf an Kopf mit Emanuele im Gras einer Wiese lag und über ihnen der florentinische Sommerwind durch die Blätter der Linde strich?“

„Wer hat dir erlaubt, in dieser Scheißstadt herumzuschnüffeln, um herauszufinden, was aus deinem geliebten, dummen jungen Freund Emanuele Orenstein geworden ist? Der ist tot, verstehst du, mausetot, und es war ein großer Fehler von dir zu versuchen, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Denn Tote reden nicht, aber wenn sie reden, speien sie Gift und Galle, kapiert, du dumme Gans.“

„Um zu überleben, ist man zu allem fähig, und das ist die widerlichste Strafe, die raffinierteste, das, was uns eigentlich umgebracht hat.“

Persönliche Bewertung

Ein literarisch grandios gemachter Flickenteppich.

5 von 5

Dacia Maraini, die als die Grand Dame der italienischen Literatur gilt, und bisher hauptsächlich Historienromane schrieb, wagt sich auf ein zeitlich näher liegendes Gebiet vor: die verheerende Schneise, die der Faschismus, die Verfolgung und Vernichtung der Juden und der auf den Krieg folgende Eiserne Vorhang und der Aufstand in Ungarn durch ganz Europa schlug. Und egal, wie tief die Wunden waren (und sind), die Marainis Protagonisten davon trugen, egal wie sehr sie leiden und in ihrer Lebensfähigkeit beschnitten sind, sie tragen doch eine tiefe Menschlichkeit in sich. Bis auf die Ausnahmen – die die Autorin auch wenig subtil als Täter zeichnet – wie beispielsweise die Diplomatenfamilie, die die Wohnung der Orensteins übernahm, und diese auch im Jahre 1956 wieder bewohnen. Die Szene, in der Haltung und Einstellungen dieser deutschen Familie beschrieben werden, ist wirklich grandios geraten. Etliche andere Szenen auch – die hier nicht verraten werden sollen, um die Spannung zu erhalten. Aber genau das ist vielleicht das Problem dieses Romans. Er wirkt über weite Strecken wie einen Flickenteppich großartig aneinandergereihter Szenen. Das Grauen von Dachau – hautnah miterlebt, gemixt mit dem Grauen bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes, dazu noch die Soldatenbriefe, die Fronterlebnisse und dazu noch Amaras verstümmelte Liebes- und Lebensfähigkeit. Sogar Vergewaltigung und ihre Folgen– im Duce-Italien und bei Amaras Mutter– findet sich in diesem Epos. Was aber fehlt, ist eine starke tragende Handlung. Die Suche der Amara allein für sich trägt den Roman nicht. Und irgendwie, bei aller Menschlichkeit, die die Gruppe der Suchenden zusammenschweißt, die bis auf Amara ja in erster Linie Überlebende sind, hinterlässt das Buch den Leser ratlos und traurig. Als wenn die Feuerstürme, die durch Europa stürmten und Kälte, die nach dem Krieg einkehrte, in der Lesart der Autorin mitgetragen von all den kleinen Leuten, alle Lebendigkeit aus der Erzählung herausgezogen hätten.
Und vielleicht ist ja das, worum es der Autorin ging. So endet der Roman dann auch offen, wenngleich der Leser kaum zu hoffen wagt, dass die zarte Blüte der Hoffnung noch einmal gedeiht.

Fazit: Ein literarisch grandios gemachter Flickenteppich – zusammengehalten von den Wunden und Verheerungen, die Faschismus, Holocaust und die Niederschlagung des Budapester Aufstandes quer durch Europa schlugen.

Originaltitel
Il treno dell`ultima notte
ISBN10
3492052940
ISBN13
9783492052948
Dt. Erstveröffentlichung
2010
Gebundene Ausgabe
480 Seiten