Das andere Kind
Zusammenfassung zu “Das andere Kind”
In der beschaulichen nordenglischen Kleinstadt wird die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Studentin gefunden. Monatelang ermittelt die ehrgeizige Polizistin Valerie Amond, ohne dabei dem Täter auf die Spur zu kommen. Bis eines Tages die Leiche einer alten Frau, ebenfalls vom Hass zerstört und gezeichnet, in einer abgelegenen Schlucht gefunden wird. Die Tote war – kurz bevor sie ermordet wurde – Protagonistin einer Verlobungsfeier, die sie zur Auflösung trieb, indem sie ihre Meinung über den Verlobten ihrer Fast-Zieh-Tochter Gwendolyn Beckett zum Besten gab, die ziemlich abwertend ausfiel. So verwundert es nicht, dass selbiger Verlobter als Hauptverdächtigter ins Visier rückt. Passt er doch auch gleich noch vom Täterprofil als Mörder für den Mord an der Studentin. Die Polizistin Valerie Amond hofft, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wovon die Polizistin nichts ahnt, es existieren Briefe, welche die mittlerweile ermordete Fiona Barnes an ihren einstmals Geliebten Arthur Beckett schrieb, in denen sie versucht, sich einer alten Schuld zu stellen. Dem Verbrechen, das sie wohl – oder auch nicht – zusammen mit Arthur an Nobody begangen hatte, oder zumindest hätte verhindern können. Briefe, die nun, da sie mit ihnen konfrontiert wird, Fionas Enkeltochter völlig aus dem Gleichgewicht bringen, obwohl sie selbst doch eigentlich schon genug mit ihrer Scheidung zu kämpfen hat. Aber hat die Kälte im Leben der Enkeltochter nicht auch mit der emotionalen Kälte zu tun, mit der ihre – nun tote – Großmutter, sie groß gezogen hat? Und liegen die Wurzeln dieser Kälte nicht ebenfalls weit in der Vergangenheit? Fragen über Fragen, die in dieser und anderer Art, aber oft die Wurzeln menschlichen Verhaltens berührend, den ganzen Roman durchziehen. Am Ende einer verschlungenen Reise quer durch die Zeiten und die Seelen der Beteiligten wird dann zumindest der Mord an Fiona Barnes aufgeklärt – so viel sei hier schon mal verraten.
Wichtige Charaktere
- die Polizistin Valerie Amond
- das Kind Nobody
- die alte Dame Fiona Barnes
- Fionas Enkelin
- der Farmer Arthur Beckett und seine Tochter Gwendolyn Beckett
Zitate
„Sein Hals wurde eng. Nach dem ersten Whisky würde es ihm besser gehen, das wusste er, nach dem zweiten noch besser, und es war ihm gleichgültig, ob er anschließend noch fahrtüchtig war oder nicht. Hauptsache, die Schärfe der Gedanken, die auf ihn einstachen, verwischte etwas. Hauptsache, seine Zukunft fühlte sich erträglicher an.“
„Gwen hat auch immer unter deiner Art gelitten, aber sie ist deine Tochter, sie kam auf die Welt und kannte vom ersten Tag an nichts anderes als einen Vater, der praktisch kein Wort spricht, der sich innerlich seiner Familie vollständig entzieht, der da ist und doch nicht da ist. Sie konnte Mechanismen entwickeln, die es ihr möglich machten, in der Wüste zu überleben. Deine Frau war, obwohl jung an Jahren, dafür doch wieder zu alt. Sie rieb sich auf an dir. Sie starb schließlich an Kummer und Frustration. Der Tumor in ihrer Brust war nur körperlicher Ausdruck dieses Unglücks.“
„Aber ich muss Sie enttäuschen. Hätte ich Fiona Barnes töten wollen, ich hätte es nicht erst vor ein paar Tagen getan. Am Ende eines schönen Lebens und um ihr die Beschwerlichkeiten, die Mühsal und die Einsamkeit des Alters zu ersparen? Warum hätte ich so nett sein sollen?.“
„Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat. Vielleicht in dem Moment, als die Almond diese alte Geschichte auskramte und mir unter die Nase hielt. Als ich mich schon wieder wegen dieser Sache in die Enge getrieben fühlte. Aber begriffen habe ich gestern. Als ich Ena Wittys Angst vor Stan Gibson miterlebte. Ihr Zögern. Ihr Zaudern. Soll sie sich trennen? Soll sie bleiben?. Hat er etwas mit Amy Mills zu tun? Bildet sie sich sein seltsames Verhalten im Alltag nur ein? Hin und her, und alles was sie dabei ausstrahlte, war Unsicherheit, Schwäche, Unentschlossenheit,Mutlosigkeit. Ich habe den ganzen gestrigen Nachmittag mit ihr verbracht. Den Abend. Die Nacht. …Und irgendwann wollte ich nur noch weg. Fliehen. Ich konnte sie nicht mehr ertragen. …’Ich sah diese grässliche Ena Witty vor mir, und dann mußte ich Amy Mills denken – an das, was man durch die Presse von ihr weiß. Sie muss genauso ein Typ gewesen sein. Ein Opfer. Stan Gibson findet Gefallen an solchen Frauen. Solchen, die kuschen. Die ihn zum Herrn und Gebieter machen. Und das Schlimme ist: Er findet sie. Es gibt sie. Gar nicht so selten.“
Persönliche Bewertung
Spannender, grausamer und doch menschlich-sanfter Krimi
Charlotte Link stellt in diesem Psycho-Krimi ihr Talent als meisterhafte Erzählerin unter Beweis. Auf fast siebenhundert Seiten werden eine Menge verschiedener Lebensgeschichten erzählt. Und die Autorin versteht es ausgezeichnet, diese Geschichten nicht nur spannend zu erzählen, sie ist in der Lage, die jeweiligen Protagonisten selbst sprechen zu lassen. So wird es der Leserin leicht gemacht, einzutauchen in die Erfahrungswelt eines 11-jährigen Mädchens, das, während über London die Bomben fallen, in die Kinderlandverschickung versendet wird, und plötzlich allein dasteht, in diesem Fall jedoch noch mit einem kleinen traumatisierten an der Hand. Lebendig wird auch die immer ein wenig düstere, stumme, karge Atmosphäre abgelegener englischer Farmen. Lebendig werden die Gefühle und Ängste einer vierzig-jährigen geschiedenen Ärztin, die durch ihre Scheidung ihren Platz im Leben verlorenen hat. Sogar das Innenleben eines Stalkers und potenziellen Mörders wird überzeugend entblättert. Es ist wohl keine Figur im ganzen Roman zu finden, die nicht ansprechend psychologisch charakterisiert ist. Darin liegt wohl die besondere Stärke gerade dieses Krimis – vielleicht auch die der Autorin. Allein all das ist schon ziemlich unterhaltsam zu lesen. Aber all diese Geschichten dann auch noch unter einen Hut zu bringen, die Bögen virtuos zusammenführen, ohne dass die Spannung abfällt, und ohne einen aktionsreichen, abrupten Schluss bemühen zu müssen, ist schon nahezu grandios.
Auf den hier vorgestellten (fast) siebenhundert Seiten treffen Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit Geschichten zu erzählen, derart gekonnt aufeinander, dass der Krimi sich nicht in gängige Klischees pressen lässt. Vielleicht einfach so: Eine meisterhafte Erzählung, die nicht den Anspruch erhebt, große Literatur sein zu wollen, sondern den ernsthaften Versuch unternimmt, die Leserin zu unterhalten, ohne dabei zu langweilen oder auf billigen Spannungsaufbau zurückzugreifen. Das dabei über allem ein hauchfeines Rosamunde Pilcher Kolorit liegt, verleiht der Erzählung eher noch mehr an Schärfe, hat man doch noch stärker das Gefühl, einen Blick hinter augenscheinlich idyllische Kulissen zu werfen.
Fazit: Spannend, grausam und doch menschlich-sanft: Charlotte Link als meisterhafte Erzählerin über das Verborgene im Menschen, der es gelingt, über alles noch einen Hauch von Rosamunde Pilcher Kolorit zu zaubern. Das nimmt dem Krimi ein wenig die Schwermut.
- ISBN10
- 3764502797
- ISBN13
- 9783764502799
- Dt. Erstveröffentlichung
- 2009
- Gebundene Ausgabe
- 672 Seiten