Das Mädchen mit dem Haifischherz
Zusammenfassung zu “Das Mädchen mit dem Haifischherz”
Die fünfzehnjährige Anais ist ein Waisenkind, das schon zahlreiche Heime und Pflegefamilien hinter sich hat und seit Jahren schon Umgang mit Drogen und (Klein-)Kriminellen pflegt. Jetzt wird sie ins Panoptikum gebracht, ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, denn sie steht unter Verdacht, eine Polizistin lebensgefährlich verletzt zu haben. Anais kann sich an nichts erinnern, ist sich jedoch sicher, dass sie die Tat nicht begangen hat, auch wenn sie kein Mitleid für die Beamtin verspürt. In ihrem neuen Heim muss sie unter den Bewohnern gleich zu Anfang ihre Härte beweisen, lebt sich jedoch langsam in den Alltag dort ein. Besonders mit drei Mädchen freundet sie sich an: mit Shortie, der vermutlich einzigen Jungfrau im Heim, Isla, Mutter von Zwillingen, die zu selbstverletzendem Verhalten neigt, und Tash, die sich prostituiert, um Geld für eine gemeinsame Zukunft mit Isla und ihren Kindern zu verdienen. Zwischen den vier Mädchen entwickelt sich eine Gemeinschaft, die aus gemeinsamem Drogenkonsum und Sympathien für die Situation und Lebensgeschichte der anderen besteht.
So lange Anais der versuchte Mord nicht nachgewiesen werden kann, darf sie im Panoptikum bleiben. Sie selbst erinnert sich, dass das Blut auf ihrer Kleidung am Tatabend von einem Eichhörnchen stammt, doch die Justiz scheint wenig motiviert, ihre Unschuld zu beweisen, und zu allem Überfluss plant ihre Sozialarbeiterin, sich ins Ausland zu verabschieden. Wenigstens der Betreuer Angus scheint in Ordnung zu sein, lässt den Mädchen viel durchgehen und zeigt sich verständnisvoll. Anais ist jedoch sicher, dass eine Verschwörung im Gang ist: das „Experiment“ beobachtet sie immer und überall, möchte sie kleinkriegen und plant, sie in ein geschlossenes Heim zu stecken, zwischen Pädophile und ähnliche Subjekte…
Wichtige Charaktere
- Anais Hendricks
- Teresa
- Shortie, Isla und Tash
- Dylan, Brian und John
- Helen
- Angus
- Joan
Zitate
„Teresa hat damit angefangen, als sie noch ganz jung war. Sie kam zuerst in einen ganz anständigen Sauna-Club, wo sie dann auch ewig geblieben ist. Aber irgendwann hatte sie keinen Bock mehr darauf, immer einen Teil ihrer Einnahmen abzugeben. Als sie mich adoptierte, arbeitete sie von zu Hause aus. Ihr Alter hatte keine Ahnung davon. Er glaubte, sie arbeite als Buchhalterin. Sie sagte mir, sie habe es mit dem bürgerlichen Leben versucht, aber das hätte eben nicht geklappt. Sie würde es aber nicht bedauern, weil sie so schließlich mich bekommen hätte. Ihr Alter hatte einen normalen Job, ein normales Leben, eine ganz normale Familie. Sie hatte Professor True. Er war ihr ältester Kunde, und über ihn konnte sie sich sozialversichern, weil er sie als seine Buchhalterin ausgab, für ihn war sie was ganz Besonderes und sowieso die Allerbeste. Er liebte sie. Der alte True. Alter Arschficker. Aber nicht der Universität verraten oder seiner heiligen Ehefrau. Wahrhaftig – True.“
„Heute bin ich hässlich. Ich sitze auf einem Hügel und starre auf die Schule runter und kann immer noch nicht fassen, dass Angus sie wirklich überzeugen konnte, mich wieder in den Unterricht zu lassen. Es ist jetzt vier Wochen und zwei Tage her, seit ich ins Panoptikum gekommen bin. Meine Tage liefen bis jetzt so ab: Aufstehen, Rumhängen, das merkwürdige, halbherzige Gespräch mit Helen, Kartenspielen mit Angus, Warten, bis Isla, Tash oder Shortie aus der Schule kommen, Kiffen. Es war absolut zivilisiert, aber Angus musste ja losgehen und alles verderben.
Die Schulglocke scheppert, und Guppies kommen in Schwärmen aus der Tür wie ein Virus. Gesichter. Augen. Ellenbogen. Ich setze meine sternenförmige Sonnenbrille auf und stehe auf. Ich hab sie heute früh im Secondhandladen gekauft. Sie hat echt Stil. Ich muss meine Jeans zurechtzupfen, damit sie sitzt. Shortie hat sie mir geliehen; die Jeans ist weit, damit sie meine Fußfessel verbirgt. Wenn die zu sehen wäre, würde die ganze Schule darüber reden.“
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Persönliche Bewertung
Sozialstudie um eine polarisierende Heldin
Anais ist ein außergewöhnlicher Hauptcharakter. Eine normale Kindheit ist ihr fremd. Stattdessen sind Heime, Gewalt, Drogen, Prostitution (zumindest als Beobachterin) ihr Alltag. Es ist generell sicherlich eine sehr persönliche Sache, inwieweit sich Leser in Anais hineinversetzen, inwieweit sie mit ihr sympathisieren können oder nicht. Und das ist ein wichtiger Gesichtspunkt der Geschichte: Der Lesespaß hängt maßgeblich davon ab, wie gut Leser und Leserinnen mit der Hauptfiur zurechtkommen – oder eben nicht.
Geschrieben ist „Das Mädchen mit dem Haifischherz“ in einer sehr expliziten Sprache. Die Figur der Anais nimmt kein Blatt vor den Mund, ob jedoch diese Kraftausdrücke in der Intensität und Frequenz hätten sein müssen, sei dahingestellt.
Anais‘ Familiensituation vor Teresas Tod ist einerseits rührend, andererseits verstörend: Ein Kind, in dessen Zuhause sich die Adoptivmutter prostituiert und die sie an Zigaretten und harten Alkohol gewöhnt, dürfte so manche Leser mit einem sehr bitteren Geschmack zurücklassen. Der Nachgeschmack hält an, beispielsweise mit der Tante, die Anais (deutlich noch minderjährig) mit Drogen versorgt und ihr den Tipp und eine Adresse gibt, um sich zur Domina ausbilden zu lassen, sollte sie jemals den Weg der Prostituierten einschlagen.
Es mag dem Umfeld geschuldet sein, doch im Verlauf der Geschichte ist auffällig, welche Selbstverständlichkeit Drogen und Gewalt in Anais‘ Leben haben. Das Mädchen kifft jeden Tag und wirft zahlreiche andere Drogen ein. Dies mag realistisch sein, doch als Jugendbuch ist die Geschichte damit eher ungeeignet, denn obwohl teilweise abschreckende Beispiele für Süchtige gegeben werden, bleibt Anais‘ exzessiver Drogenkonsum unhinterfragt.
Das größte Problem: Der Klappentext weckt vollkommen andere Erwartungen: Er kündigt eine Heldin an, die sich mit Mut und Fantasie durch eine Welt kämpft, die ihr Steine in den Weg legt. Die Geschichte zeigt sich jedoch vollkommen anders. Stärke und Mut äußern sich eher in Rebellion und Gewalt, und es ist nicht klar, ob es wirklich Fantasie oder die Auswirkung ihrer Drogen ist, die sie beeinflussen. Anais träumt sich aus ihrem Leben weg, ohne jedoch etwas für ein besseres Leben tun zu wollen. Sie ist der Meinung, sie gehöre nicht in dieses Leben, doch unternimmt sie nichts, davon wegzukommen. Auch ihr Verfolgungswahn von einem „Experiment“, das angeblich Menschen verschwinden lässt, scheint weniger Fantasygeschichte als eher Nebenwirkungen ihrer Drogenexzesse zu sein.
Anais sieht auf bürgerliche Menschen herab, möglicherweise als Schutz, da diese auch ihr mit Abscheu begegnen, doch verhält sie sich teilweise ebenso engstirnig und vorurteilsbelastet wie die bürgerliche Gegenseite. Positiv und sympathisch ist dennoch: Bei aller Rebellion hat Anais durchaus gewisse moralische Vorstellungen – Gewalt gegen Tiere, Kinder und alte Menschen ist tabu und empfindet sie als abstoßend. Dass die Polizistin im Koma liegt, berührt sie jedoch nicht, für die Jugendlichen, mit denen sie sich prügelt, empfindet sie keine Empathie. Auch dass ein anderer Heimbewohner ein Behindertenheim abgebrannt hat, findet Anais einerseits „daneben“, andererseits findet sie den Jungen sympathisch.
Die (ebenfalls im Klappentext angekündigte) Gemeinschaft innerhalb des Heimes äußert sich vor allem in gemeinsamen Drogentrips und in weitgehend oberflächlichen Gesprächen über die eigene Vergangenheit und die eigenen Ziele und Träume. Auch die Heimbewohner grenzen einen der Ihren aus, weil sie seine psychischen Probleme abstoßend finden und nicht nachvollziehen können. Sympathie und Respekt werden in der Welt des Heims vor allem deswegen gezollt, wenn andere Menschen gewalttätige oder besonders auffällige straftätige Dinge getan haben.
Insgesamt ist es ein deprimierendes Buch. Bestes Beispiel ist neben Anais das selbstverletzende drogenkonsumierende Mädchen mit den beiden Kindern. Es ist Ansichtssache, ob den Kindern gewünscht werden soll, dass sie zu einer solchen Mutter zurückkehren müssen/dürfen… Ebenso traurig und nachdenklich macht die minderjährige Prostituierte, die Geld für sich und ihre Freundin verdienen möchte und dabei jede Nacht ihr Leben aufs Spiel setzt. Die Perspektivlosigkeit scheint praktisch allen Charakteren ins Leben gemeißelt zu sein, ohne Aussicht auf Besserung.
Die Botschaft dieser Geschichte sucht man vegebens. Es handelt sich eher um eine Sozialstudie und ein psychologisches Portrait eines Mädchens, das im Leben nie eine Chance hatte als in Gewalt und Drogen ihre Sicherheit zu suchen. Das Ende der Geschichte schließlich erscheint äußerst unrealistisch, der Fortgang der Handlung bleibt zudem offen, sodass jeder Leser angehalten ist, sich den Fortgang selbst auszudenken.
Fazit
Jenni Fagan erzählt mit ihrem Haifischmädchen eine Geschichte, die polarisiert und sicherlich genauso viele Leser ratlos zurück lässt wie sie fasziniert. Für Jugendliche problematisch, für Erwachsene eine interessante Lektüre, die man hassen oder lieben kann, die aber in jedem Fall in Erinnerung bleibt.
- Originaltitel
- The Panopticon
- ISBN10
- 3888979250
- ISBN13
- 9783888979255
- Dt. Erstveröffentlichung
- 2014
- Gebundene Ausgabe
- 332 Seiten