Kuraj

Autoren
Übersetzer
Annette Kopetzki
Verlag
Claassen Verlag

Zusammenfassung zu “Kuraj”

Wie ein Kuraj, das sind vom Wind ausgerissene Büsche, die im Frühjahr durch die Steppe treiben, hat es die kleine Naja durch die Welt getrieben. Im Alter von zehn Jahren wird sie aufgrund eines eigentümlichen Versprechens vom ihrem Nomadenstamm getrennt und in das von Bomben zerstörte Nachkriegs-Köln zu einer Ersatzfamilie geschickt. Wo sie tatsächlich die früh verstorbene Tochter ersetzen soll. In Köln angekommen, erleidet Naja einen schweren Kulturschock. Sie versteht nicht, wieso ausgerechnet ihr das Leid der Vertreibung aus der Heimat angetan wurde. Und egal wie sehr sie sich bemüht, sich an das Leben in Köln, an ihre Mutter und die deutsche Lebensweise anzupassen, sie bleibt einfach immer eine Fremde. Fremder, viel fremder als die vielen Flüchtlinge, die ebenfalls in Köln gestrandet sind. Daran ändert selbst eine Nasenoperation wenig.

Während Naja versucht den Kulturschock zu überleben, erinnert sie sich. Nur die Erinnerung an die Geschichte ihres Volkes hilft ihr, ihre Identität nicht zu verlieren. Sie erinnert sich all der Geschichten, die sie als Kind über ihr Volk und ihren Stamm hörte. Denn die mündliche Überlieferung war das Gedächtnis der Tunschan. Und mit ihren Erinnerungen streift auch der Leser durch die Geschichte des Mongolenvolkes und legt weite Strecken quer die Steppe zurück. Und erfährt viel über Gebräuche, Lebensweise und Mythen des Tunschan-Volkes.

Nach dem Tod ihres Stiefvaters findet Naja in alten Unterlagen ein Foto, auf dem ihr Vater und Stiefvater zusammen zu sehen sind. Es ist die einzig sichtbare Erinnerung an ihre Herkunft. Sie findet aber auch eine Erzählung,  die ihr Stiefvater nach dem Krieg schrieb. Diese Erzählung erzählt die Geschichte davon, wie es dazu kam, dass es Naja aus den Steppen im Niemandsland zwischen Russland und China in das Nachkriegs-Köln verschlagen konnte. Und diese Erzählung berichtet in erster Linie vom Soldat-Sein im Krieg. Sie berichtet von den Greueln bei der Schlacht um Stalingrad. Und sie berichtet von den russischen Gefangenenlagern. Über viele, viele Seiten.

Aber der Tod des Vaters zieht nicht nur diese Entdeckung nach sich. Es ist auch niemand mehr da, der die Möbel-Fabrik der Bergers weiterführen kann. Naja und ihre Stiefmutter müssen die Villa, in deren Biedermeier-Abgeschlossenheit sich das Leben bis dahin abspielte, verlassen. Naja sucht eine kleine Wohnung in Köln – immerhin mit Rheinblick. Sie bekommt eine Stelle als Angestellte in der Post. Und sie heiratet einen Griechen. Und sie zieht mit ihrem Mann nach Griechenland, nach Athen, in das Haus von Heleni. Und sie ist dort glücklich. Sogar sehr glücklich, als auch ihre deutsche Mutter nach Griechenland kommt, und dort erstmals Anzeichen von Lebendigkeit zeigt. Aber ihr griechischer Mann hält nicht, was er einst versprach – oder auch nicht versprach. Naja flüchtet nach Zypern, um sich wieder zu verlieben. Und wieder sehr glücklich zu sein. Bis ihr Mann sie findet. Am Ende führt der Weg zurück nach Köln. Und ganz zum Schluss nach Buchara.

Wichtige Charaktere

  • das Mädchen Naja
  • ihre zwei Väter
  • ihre zwei Mütter
  • das Volk der Tunschan und seine Geschichte
  • der Zweite Weltkrieg
  • Soldaten

Zitate

„Wir lebten am Schnittpunkt der Wege, die seit jeher den Westen mit dem Osten und den Norden mit dem Süden verbinden, der Straßen der großen Karawanen. Ohne es zu wissen, befanden wir uns dort, wo die großen Kulturen und Religionen sich begegneten, in der Gegend, wo die Griechen von Buddha erfahren hatten, Zarathustra die Perser den Feuerkult gelehrt hatte, der Islam die Farbe der chinesischen Keramiken angenommen hatte, die Türken und die Mongolen zu einer einzigen Rasse verschmolzen waren, Sprache und Schriften einander abwechselten und dabei manches voneinander übernahmen. Auch wir selbst, die wir uns Nachfahren der ‚weißen Gebeine‘ von Dschingis Khan nannten, waren in Wirklichkeit eine Kreuzung verschiedener Sprachen und Volksstämme.“

„Wir waren Tunschan-Tataren, Nachfahren des mächtigen Mongolenstammes der Tataren, den ursprünglichen Tataren, die bei den Chinesen Ta-Ta hießen, nicht denjenigen, die die Europäer später ‚Tataren‘ nannten, weil sie Klang und Aussehen vermischten, nämlich die lautliche Verwandtschaft mit dem chinesischen Namen und die Ähnlichkeit mit teuflischen Wesen, denn die Horden der Nomaden schienen ihnen direkt aus dem Tartarus gekommen zu sein.“

„Niemand hatte mir gesagt, das ich mit einer veränderten Nase eine andere werden würde. Sie hatten einfach gedacht, ich würde dieselbe bleiben, mit einer hübscheren Nase, und hier lag der Irrtum, weil das Außen und das Innen derselbe Mensch sind, und nachdem sie das Außen verändert hatten, war ich auch innen nicht mehr die Gleiche. Ich war ein Wesen, das ich nicht kannte, und ich wusste nicht, ob es mir gelingen würde, mich an die Fremde zu gewöhnen, die ich geworden.“

„Jetzt begriff ich, warum ich hierher gekommen war: Um zu erfahren, ob es einen Ort gab, der immer noch mein Zuhause war, einen Ort, an den zurückkehren ich das Recht, nein, die Pflicht hatte. Ich, die ich in all diesen Jahren die Fremden beneidet hatte, die in Köln lebten, weil sie einen Ort besaßen, an den sie zurückgehen konnten, hatte jetzt auch einen. Es zählte nicht, dass es ein Land war, wo ich nicht hätte leben können.“

Persönliche Bewertung

Fulminantes Epos über die Geschichte eines Mongolenvolkes, das Soldat-Sein und das Fremdsein der durch Kriege Verwehten.

4 von 5

Dieser Roman ist ein Epos. Geschrieben mit großer Liebe zur Geschichte der Nomadenvölker. Über viele, viele Seite wird von der Geschichte, den Kämpfen, dem Leiden und dem Alltag des Tunschan-Volkes erzählt. Eine Geschichte, die eine Geschichte vom Hin- und Hergetrieben sein zwischen Tiger (China) und Bär (Russland) ist. In der dieses kleine Volk – das der Leser trotz seiner rauhen Sitten schnell lieb gewinnt – sich schließlich aufreibt.
Aber nicht nur die Geschichte des Tunschan-Volkes wird erzählt. Der Zweite Weltkrieg kommt in diesem Roman raumgreifend zu Wort. Hat sein stattfinden doch dafür gesorgt, dass Naja bis nach Köln geweht wurde. Und waren ihre Väter doch vor allem Soldaten – fast sechs Jahre lang. Und so wird das Soldat-sein wichtig in Najas Geschichte. Menschen werden zu Soldaten und finden an sich Plätzen wieder, von denen sie nicht ahnten, dass es diese überhaupt gibt. Und sollen dort für etwas kämpfen, von dem sie nicht wissen, was es ist. Wirklich eindrucksvoll und raumgreifend gelingt es Silvia die Natale, beide Themen darzustellen. All diese Stränge verbindet sie mit dem Leben der kleinen Nomadin Naja – die es aus der Steppe nach Köln geweht hat. Und von dort nach Griechenland und wieder nach Köln zurück.
Weniger eindrucksvoll als die epischen Geschichtsschilderungen ist die Darstellung des Fremdseins und der Wurzellosigkeit gelungen. So ist das Buch mehr eine Empfehlung für historisch Interessierte. Wohl kaum irgendwo wird man die Geschichte des Mongolenvolkes besser dargestellt finden. Und auch die Schilderungen des Soldatenleids sind wirklich lesenswert. Aber, das war es dann auch schon! Das Fremdsein rankt sich um die historischen Darstellungen herum, um die Geschichte des Mongolenvolkes und die Leiden ihrer beiden Väter (vor Stalingrad und in den russischen Lagern). Aber vielleicht war es ja das, was die Autorin sagen wollte. Schließlich sind wir alle die Kinder unserer Eltern, und wenn die Eltern durch die Wirren der Zeit herumgewirbelt werden, kann das wohl auch den Kindern passieren.

Originaltitel
Kuraj
ISBN10
3546003047
ISBN13
9783546003049
Dt. Erstveröffentlichung
2002
Gebundene Ausgabe
544 Seiten