Die Geschlechterlüge

Autoren
Übersetzer
Susanne Held
Verlag
Klett-Cotta Verlag

Zusammenfassung zu “Die Geschlechterlüge”

Männliche und weibliche Gehirne sind von Geburt an unterschiedlich und arbeiten demnach auch entsprechend unterschiedlich. Das Resultat sind unterschiedliche Begabungen, Interessen und Vorlieben von Männern und Frauen. Soweit die verbreitete und populäre Meinung. Cordelia Fine untersuchte Studien und Publikationen, die sich mit diesem Phänomen befassen und hinterfragt die Ergebnisse kritisch. Dabei herausgekommen ist dieses Buch, das selten angezweifelte Geschlechtervorurteile auf ihren wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt überprüft.

Der Aufbau des Buches beginnt bei den vermeintlichen wissenschaftlichen Tatsachen (Unterschiede in der weißen Gehirnsubstanz, im fötalen Testosteron, dem ein Säugling ausgesetzt ist, einem stärker ausgeprägten Parietallappen bei Männern oder einem dickeren Corpus callosum im Gehirn von Frauen), zieht Parallelen zu historischen Theorien über die Unterschiede der Geschlechter, beleuchtet anschließend die Auswirkungen, die gängige Gendervorurteile im alltäglichen Leben haben und sucht nach Erklärungen für die tatsächlich beobachtbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Schließlich stellt die Autorin die Frage, wie zukünftig mit dem Thema umgegangen werden soll und wie Eltern ihren Kindern überhaupt ein Aufwachsen außerhalb dieser Vorurteile ermöglichen können – die vielzitierte und von konservativen Gendertheoretiker und Wissenschaftlern oft belachte „geschlechtsneutrale Erziehung“ ist schließlich in unserer Gesellschaft höchstens mit großen Mühen und selbst dann kaum praktisch durchführbar und muss darum zum Scheitern verurteilt sein! Wie soll man also je aus diesem Kreis ausbrechen?

In ihrem Buch kommt Cordelia Fine zu einer Vielzahl äußerst bemerkenswerter Ergebnisse über Genderstudien und -theorien, von denen einige hier beispielhaft herausgegriffen werden sollen. Vermeintlich wissenschaftliche Studien ohne Aussagekraft (dank eines unhaltbaren Versuchsaufbaus, des Versuchsleitereffekts oder anderer subtiler Faktoren wie die Aktivierung von Genderbewusstsein, die massive Auswirkungen auf Studienergebnisse haben kann) sind im Kreis der Wissenschaftler ebenso zu finden wie Studienergebnisse, die auf einer (natürlich rein subjektiven) Selbsteinschätzung der Versuchspersonen beruhen. Die Tatsache, dass Studien, die keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellen, in der Schublade verschwinden, während Ergebnisse, die auf einen Unterschied hindeuten, populär veröffentlicht werden. Die wissenschaftlich höchst bedenkliche Umkehr von Ursache und Wirkung – Frauen schneiden in Mathetests nicht schlechter ab, weil sie aufgrund ihrer biologischen Voraussetzungen (ihres „weiblichen Gehirns“) nicht die Fähigkeiten von Männern mitbringen, ihr Verhalten beruht vielmehr auf der Aktivierung einer simplen Erwartunghaltung, die erfüllt wird: „Frauen sind schlechter in Naturwissenschaften, Männer schlechter in Sprachen.“ Wichtige Stichworte sind hier die Motivations- und Fähigkeitslücke. Werden die Vorurteile weitgehend aus dem Bewusstsein ausgeschaltet oder werden anderweitige Motivationen geschaffen, die Aufgaben gut zu lösen, sieht das Ergebnis schon ganz anders aus.

Ebenso aufsehenerregend ist die Tatsache, wie aus unterschiedlichem Gehirnaufbau fälschlicherweise ein Unterschied in den mentalen Prozessen geschlussfolgert wird oder wie fehleranfällig das oft beschworene Verfahren des Neuroimaging ist. Bedenklich sind die Ergebnisse verschiedener Studien über unbeabsichtigte und unbewusste oder sogar ganz offene Genderdiskriminierungen in Jobsituationen, bis hin zu sexuellen Belästigungen – und das alles auf der Basis der vermeintlich unterschiedlichen Gehirne. (Interessanterweise können Wissenschaftler, denen nur ein einziges Gehirn vorgelegt wird, nicht herausfinden, ob es sich um ein weibliches oder männliches handelt!) Dass die sogenannte „Verdrahtung“ im Gehirn keineswegs so starr ist, wie der Begriff allein das suggeriert, wird gern übersehen. Vielmehr ändern sich Gehirnstrukturen laufend. Es findet eine „ständige Interaktion zwischen Genen, Gehirn und Umgebung“ statt. Die neuronale Struktur wird durch das Denken, Lernen und Empfinden beeinflusst, reagiert auf Erfahrung und Umwelt. Der omnipräsente Fokus auf das biologische Geschlecht, mit dem schon kleine Kinder, sogar schon Säulinge konfrontiert werden, noch bevor sie ihr Geschlecht im Alter vor zwei Jahren selbst bewusst wahrnehmen, führt natürlich zu einem unterschiedlichen Denken und Handeln. Mit einem angeborenen biologischen Unterschied hat das jedoch wenig zu tun.

Zitate

„Es überrascht nicht, dass Kinder den inoffiziellen Beruf des Genderdetektivs übernehmen. Sie werden in eine Welt hineingeboren, in der die Geschlechtszugehörigkeit ständig durch Bekleidungskonventionen, Auftreten, Sprache, Farben und Symbole hervorgehoben wird. Die gesamte Umgebung des Kindes verweist darauf, dass es sehr wichtig ist, ob man ein Mann oder eine Frau ist. Und gleichzeitig bewegt sich das, was wir Kindern über die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit durch unsere Sozialstrukturen und durch die Medien nahelegen, was wir ihnen über die Implikationen von Mann- oder Frausein vermitteln, nach wie vor in ziemlich altmodischen Bahnen.“

„Im Selbstsozialisierungsprozess eines Mädchens im Kindergartenalter verleiht also eine Wolke rosa Tüll eine zentrale, auf Genderzugehörigkeit basierende Gruppenidentität mit beruhigender Stabilität.
(…)
Desgleichen können wir davon ausgehen, dass Jungen von Spielsachen oder Aktivitäten angezogen werden, die ihrem fundierten Vorwissen entsprechen, dass Härte und Zähigkeit – ‚tough‘-Sein – ein Jungending sind!
Für eine Studie wurde ein zartrose Exemplar der Gattung ‚My Little Pony‘ dahingehend verwandelt, dass man ihm die Mähne (ein weiches, ‚mädchenhaftes‘ Merkmal) abrasierte, es schwarz (also betong streng) anmalte und ihm noch spitze Zähne verpasste (damit es aggressiver wirkte). Sowohl Jungen als auch Mädchen stuften das veränderte Pony als Jungenspielzeug ein, und die meisten Jungen waren (ganz im Gegensatz zu den Mädchen) sehr daran interessiert, eines zu bekommen.
Die fünfjährigen Mädchen in derselben Studie waren übrigens ‚ganz angetan von … den mit lavendelfarbenem Satin überzogenen Gewehren und Schulterhalftern und den mit rosa Pelz gefütterten Kriegshelmen.'“

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Persönliche Bewertung

Großartig aufbereitetes Buch, das hartnäckige Geschlechtervorurteile hinterfragt

5 von 5

Frauen können nicht einparken und Männer nicht zuhören? Männer wünschen sich Socken und Frauen tauschen alles um? Und warum ist das so? In einer Vielzahl populärwissenschaftlicher Publikationen, ja sogar in der Fachliteratur ist die Erklärung für dieses Phänomen denkbar einfach: Es gibt „männliche“ und „weibliche Gehirne“! Logisch, dass zwei so vollkommen verschiedene Gehirne unterschiedlich arbeiten. Vollkommen klar, dass Frauen mit Naturwissenschaften, mit der Führung eines Unternehmens oder einer Abteilung und mit dem räumlichen Verständnis Probleme haben. Genauso klar, dass Männer sich für Autos interessieren, die besseren Naturwissenschaftler und Führungspersönlichkeiten sind und eher weniger Wert auf Familie legen und Empathie als schwierige Aufgabe ansehen. Aber ist das wirklich biologisch zu begründen? Die Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine hat die Behauptungen von dem weiblichen und männlichen Gehirn und die vermeintlichen Beweise dafür genau unter die Lupe genommen. Nach diesem Buch sollte niemand mehr leichtfertig pseudowissenschaftliche Behauptungen über vermeintliche Unterschiede glauben und dem oft ungewollten Sexismus im eigenen Umfeld kritisch gegenüber stehen. Viele werden sich möglicherweise auch einfach nur in die Verleugnung flüchten, denn dieses Buch kann ein Weltbild umstürzen und sehr unbequem werden. Schon der Titel provoziert konservative Gemüter. Gut so!

Sprache und Anspruch der „Geschlechterlüge“ sorgen dafür, dass man sich für dieses Buch ausreichend Zeit nehmen sollte. Für eine ungefähre Einordnung könnte man sagen, dass sich Cordelia Fine mit ihrem Buch zwischen Populärwissenschaft (für die es zu anspuchsvoll ist) und Fachliteratur (für die es zu leicht verständlich ist) bewegt. Zwar hilt es, bestimmte gendertheoretische Vorkenntnisse zu haben, das Buch sollte jedoch auch für vollkommene Neulinge gut lesbar und verständlich sein. Beispiele, Anekdoten und Kommentare der Autorin lockern die Fülle an Fakten auf und sorgen für höchsten Unterhaltungswert. Der eine oder andere Satz liest sich zwar etwas sperrig, aber insgesamt ist der Übersetzerin dennoch eine großartige Leistung gelungen. Cordelia Fines bissiger Humor und die wissenschaftlichen Fakten wurden adäquat und gut verständlich übertragen – sicherlich keine leichte Aufgabe!

Wer in Cordelia Fine eine „radikale Emanze“ vermutet, eine Frau, die man gern umgangssprachlich und diskriminierend als „Kampflesbe“ bezeichnet, der irrt gewaltig. Die Autorin ist verheiratet und hat zwei Kinder, von Männerhass kann keine Rede sein. Auch „political correctness“ (die bei diesem Thema ohnehin Unfug ist, denn gerade die Betonung der Geschlechterunterschiede ist noch immer mehr als gesellschaftsfähig) ist nicht die Intention des Buches. Vielmehr geht es der Wissenschaftlerin um wissenschaftliche Fakten. Es geht darum, die vagen Behauptungen ihrer Kollegen und zahlreicher Buchautoren und -autorinnen zu überprüfen. Die Autorin behauptet nicht grundsätzlich, es gäbe keine Unterschiede zwischen den Gehirnen der Geschlechter, sie kommt lediglich zu dem Schluss, dass für das unterschiedliche Denken und Handeln bisher kein biologischer Ursprung im Gehirn bewiesen werden konnte. Natürlich kann die immense Vielzahl an Quellen, die die Autorin verwendet und die im Anhang aufgeführt sind, kaum nachgeprüft werden, doch es erscheint sehr zweifelhaft, dass sie all diese Belege gefälscht oder falsch interpretiert haben soll. Außerdem kommen verschiedene Kollegen der Autorin zu Wort, die ebenso wie sie sich kritisch zu den teilweise haarsträubenden Vorurteilen äußern. Abgesehen davon: Wer hätte sich je die Mühe gemacht, bei Autoren wie den Peases die Quellen nachzuvollziehen?

„Die Geschlechterlüge“ ist durchzogen von intelligentem Sarkasmus und bissigem Humor. Das mag nicht jedermanns Sache sein, ist der Autorin jedoch kaum zu verübeln. Zu dreist sind die unhaltbaren Behauptungen vieler ihrer Kollegen in Forschungsergebnissen und anderen Publikationen. Wer angesichts der Tatsache, wie schlampig und leichtfertig bestimmte Studienergebnisse ausgewertet und publiziert werden, nicht wütend wird, kann kein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden haben. Zu Recht weist Cordelia Fine auf die Verantwortung der Wissenschaft hin – falsche Ergebnisse, die unkritisch publiziert werden, haben immerhin deutliche Auswirkungen auf die Gesellschaft. Der sogenannte Neurosexismus ist an der Tagesordnung, Männer wie Frauen werden täglich diskriminiert und auf ihre vermeintliche Biologie reduziert. Die Gesellschaft hat sich gut in ihrem Sexismus und ihren Diskrimierungen eingerichtet, auf Kosten einzelner, aber dennoch vieler Menschen – derer, die sich nicht in die vermeintliche biologische Ordnung fügen wollen: Frauen, die „Karriere“ machen möchten oder Männer, die Familienmenschen sind beispielsweise. Interessant sind die Ergebnisse des Buches auch im Hinblick auf die vermeintliche Geschlechtsidentität, deren Gründe nicht im Gehirn zu finden sind, trotz einer anderweitigen populären Meinung.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die populäre Behauptung von der biologischen Ursache der „männlichen“ und „weiblichen“ Gehirne wissenschaftlich nicht haltbar ist. Die Unterschiede, die in Studien und im alltäglichen Leben festgestellt werden können, sind im Umfeld, in der Erziehung, im Wunsch sich anzupassen, in der subtilen und offenen Beeinflussung durch Eltern, Medien und Gleichaltrige schon bei Kleinkindern, in wissenschaflich fragwürdigen Studiensituationen und -auswertungen, in einer Vielzahl von Faktoren zu finden. Beweise für die biologischen Unterschiede dagegen fehlen bislang. Der wichtigste Hinweis ist vielleicht die Tatsache, dass Gehirnstrukturen alles andere als starr sind, sondern auf das Äußere reagieren, und das in drastischer Weise.

Fazit

So lange die Gesellschaft einen derartigen Fokus auf das biologische Geschlecht legt und die vermeintlichen Unterschiede, die sich daraus ergeben in einer fast schon besessenen Weise betont, wird es immer Unterschiede im Verhalten, im Denken, in den Fähigkeiten, in den Interessen und im Geschmack geben. Wer damit nicht zurecht kommt, ist „im falschen Körper geboren“, verzweifelt an dem Dilemma oder rebelliert mit allen Konsequenzen. Dass konservative Gender-Stereotypen jemals der Vergangenheit angehören werden, scheint zum heutigen Zeitpunkt mehr als fraglich, es bleibt jedoch zu hoffen, dass Autoren und Wissenschaftler wie Cordelia Fine mit ihrem wichtigen Buch ihren Teil dazu beitragen!

Originaltitel
Delusions of Gender
ISBN10
3608947353
ISBN13
9783608947359
Dt. Erstveröffentlichung
2012
Gebundene Ausgabe
476 Seiten